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Katalogtext "Positionen des Realismus 3" von S. Walter-Lilienfein

 

Real – Surreal – Irreal

Textbeitrag im Katalog "Positionen des Realismus 3", Kunstverein Eisenturm Mainz, 2010

Realismus...
seit den 80ern polarisiert der Begriff die Kunstrezeption. Ihm scheint etwas Preußisches anzuhaften, etwas konservativ Altbackenes. Er impliziert, dass die Wahrnehmung des Realisten streng auf ein Äußeres, die konkrete Umwelt, die äußerliche Existenz der Dingwelt gerichtet sei oder zu sein habe. In einer Gegenwart, die "Jugendlichkeit" als globale Marketingstrategie über alles setzt, die dem "wilden Gestus" huldigt, scheint er kein marktgerechtes Label zu sein, zumal gegenständliche Kunst seit einem Jahrzehnt unter anderen Bezeichnungen auf den Messen gefeiert und verkauft wird.

Während der 68er Revolte stand, zumindest in Westeuropa, eine ganz andere Konnotation des Begriffes Realismus im Vordergrund: In jener Zeit der inflationären Verwendung galt Realismus als das ideale, angesagte bildnerische Mittel um soziale Wirklichkeit zu bezeugen, Missstände aufzudecken und anzuprangern – diese Vorstellung ist leider verloren gegangen.

Wenn ich zurückschaue zu meinen künstlerischen Anfängen an der HBK in Kassel scheint es mir, als hätte meine Generation, deren Erwachsenwerden und Studium in der Zeit ab Ende der 70er bis Ende der 80er lag, wenn sie denn eine realistische, gegenständliche Kunst betrieb, in den meisten Fällen eine ganz andere Intention:
Die Räume, die wir mit unserer Kunst erkunden wollten, waren weniger die des politisch-sozialen Lebens, vielmehr war es unser Anliegen hinter die Mauern und Gitterstäbe des Weltbildes zu schauen, in das wir uns von der damaligen Gesellschaft eingesperrt fühlten.
Ich sehe uns als Teil des europaweiten "psychedelischen" Aufbruchs, der die erste "Wohlstandsgeneration" erfasst hatte, die aus der Musik der 70er und 80er ihre Nahrung zog – und aus dem weit verbreiteten Gebrauch halluzinogener Drogen.
Inhaltlich und häufig auch stilistisch erinnert dieser Realismus an den Surrealismus, der viele seiner Bedürfnisse und Gefühle bereits vorweggenommen hatte.
Er ist ein europäisches Phänomen, wie der Blick über unsere Grenzen hinweg schnell bestätigt.

Als in den 90ern die Entdeckung und Vermarktung der "Leipziger Schule" begann, fand erstmals eine gegenständliche Kunst aus der Generation der 78er – eine Kunst, die mit realistischen Mitteln eine Wahrnehmungserweiterung in seelische Räume betrieb – eine größere Aufmerksamkeit.
Diese Aufmerksamkeit ist sehr personenfixiert. Die Malerei Neo Rauchs, um auf den bekanntesten Namen einzugehen, ist auf dem Nährboden einer alten Malkultur gewachsen, die den deutschen Impressionismus bis zur neuen Sachlichkeit umfasst und die in der DDR überlebt hatte. Sie entwickelte eine neue Sprache ohne ungegenständlich zu werden. Das Assoziative dieser Bildsprache, dieser aufwallende Strom aus Zitaten, Gesten, sich wechselweise auflösender und konkretisierender figürlicher Elemente, hat für mich etwas von dem wilden Ritt auf einer bewusstseinserweiternden Droge.



Real, Surreal, Irreal!
Der Untertitel dieser Ausstellung verweist auf die Erkenntnis, dass es Realität als eine greifbare, definierbare Wirklichkeit nicht geben kann, vielmehr sich in jedem einzelnen Individuum eine unüberschaubare Fülle von Realitäten zu einer fragilen Einheit zusammenfinden müssen.

Konrad Farner, der an der Hochschule in Zürich als Kunstsoziologe lehrte, schrieb Anfang der 70er:
"So ist das realistische Kunstwerk Ausdruck menschlicher Daseinsverfassung, weil es die Spannung, genauer, die Verspannung in Permanenz darstellt. Es ist die Verspannung von objektiver Außenwelt und subjektiver Innenwelt. Es ist die Verspannung des Menschen als Objekt der Welt, der Natur, als Objekt der Geschichte, als gesellschaftliches Wesen...; als Subjekt der Geschichte, als Individuum, das Geschichte versteht, tätigt, verändert...
Das Kriterium für die realistische Kunst befindet sich also nicht im Raum des Manuellen oder Technischen, der Art des künstlerischen Schaffens, sondern im Raum der Anthropologie, der menschlichen Wirklichkeit als Ganzes.
Das Kriterium für die realistische Kunst ist gegeben durch die Art und Weise der Befragung und Beantwortung der Weltwirklichkeit."
(Konrad Farner, "Kunst als Engagement", 1972, Sammlung Luchterhand 101)

In diesen Essays wird der Realismusbegriff seiner stilistischen Bedeutungsebenen entkleidet. Konrad Farner weist ihm einen rein inhaltlichen Kontext zu.
Realismus lässt sich so als Forschen, als Empirie in einem sehr ursprünglichen Sinn verstehen.
Ähnlich dem Kind, das noch nicht durch ein System aus Erklärungsmustern ruhig gestellt ist, dem die Welt als etwas Unbekanntes, Geheimnisvolles entgegentritt, lässt der Künstler zu, dass die Welt, die Gesellschaft, das Leben ungezählte Fragen aufwirft, von denen jede eine Kettenreaktion an Empfindungen auslöst, denen er mit den Mitteln der Malerei oder Plastik nachspürt.

Folge ich den Gedanken Konrad Farners verweisen bei den hier vorgestellten Arbeiten nicht die naturalistischen Mittel auf Realismus; um realistische Kunst handelt es sich, weil die hier versammelten Künstler/innen mit ihren Mitteln Welt, Gesellschaft und/oder Umwelt befragen: Wie bin ich als Geist und Materie in sie hineingeraten, mit ihr verknüpft, ihr ausgeliefert? Weil sie mit diesen Mitteln den Zustand des Menschen als göttliches und zugleich hilflos endliches Wesen beleuchten.
Warum dann aber der Naturalismus, dem wir hier begegnen, dieses oftmals "porentiefe" Erforschen und Erschließen der Dingwelt?
Weil er unser bildnerisches Werkzeug für das Bezeugen unserer Wahrnehmung der Welt ist, wie sie uns seit unserem ersten Augenaufschlag umgibt. Von Beginn an haben uns die Dinge in ihre Mitte genommen, in ihnen finden wir unser Sein seit jeher in allen Facetten gespiegelt.
Im Wahrnehmen des Seins der Dinge erlange ich Erkenntnis über mein Sein.
Unser nach außen Sehen ist hier also eigentlich ein Sehen nach innen, ein forschender Blick in den Hort der eigenen Wirklichkeit.

Real, Surreal, Irreal!..., ich hoffe diesem Untertitel unserer Ausstellung haftet etwas von dem "legal, illegal, scheißegal" vergangener Zeiten an. Natürlich nicht in inhaltlicher Hinsicht; lediglich als Geste, als Erinnerung an die Jahre, in denen in ganz Europa ein Teil unserer Generation versuchte, sich aus gesellschaftlicher Enge zu befreien und die Zwänge, die emotionale Taubheit und Stagnation der Kriegs- und Nachkriegsjahre abzuschütteln, ein "Ideal" zu leben.
So authentisch die "romantische" Haltung dieser Aufbruchsjahre für kurze Zeit gewesen sein mag:
Mit dreißig, mit vierzig, mit fünfzig Jahren...
es bleibt uns nichts,  als unsere Wahrheiten und Freiheiten immer neu zu entdecken und zu überprüfen, nach neuen Räumen zu suchen, in uns und in die Welt hineinzuhorchen, auf der wir immer mehr rasen und immer seltener wandeln, die sich uns immer weiter entzieht, je mehr wir von ihr besitzen.

 

© Copyright Text: Sebastian Walter-Lilienfein


Sebastian Walter-Lilienfein
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