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Einführungstext zur Ausstellung "Nature morte – stilles Leben, 11 Positionen zum Ding"

 

vorgetragen am 19.01.2020 im Forum Kunst und Architektur, Essen

Dem Thema dieser Ausstellung nähere ich mich in Form einer losen und eher assoziativen Sammlung von Gedanken zum Ding!

Nature morte – Stillleben, in der Zusammenstellung dieser Beiden, die gleiche Sache bezeichnenden Begriffe erklingt eine Dissonanz, die ich schon seit längerem interessant und anregend finde ….

Das ist mir bewusst geworden, als ich 2013 bei einer Ausstellung im Kunstverein Landau auf eine Arbeit von Thorsten Hallscheidt stieß, eine Installation, in der er kreuz und quer gestapelte, verkohlte Baumstämme mit minutiös gezeichneten Arbeiten von Waldstücken, Sträuchern und Blattwerk konfrontierte. Ich war fasziniert … die französische Bezeichnung nature morte, tote Natur, schien mir perfekt diese Arbeit zu beschreiben und es entwickelte sich die Idee, in einer Ausstellung zu untersuchen, inwiefern sich stillebenartige Anteile in zeitgenössischen Kunstformen wie z.B. der Installation, oder auch der Konzeptkunst wiederfinden würden …

Bei den Vorbereitungen zu dieser Ausstellung hat sich das Thema für mich Stück für Stück als immer komplexer dargestellt, so dass ich schließlich das Gefühl hatte erst einmal fragen zu müssen:

Was sind Dinge, was bedeuten Gegenstände überhaupt für uns Menschen? Natürlich, es sind die Erfindungen, die uns als Spezies vorangebracht haben, der geformte Faustkeil, das erfundene Rad, der Föhn. Auch gefundenes, das ich benutze, der Ast, der meinen Arm verlängert ... Und natürlich auch das Blatt, welches ich betrachte und dass mir als Gegen–stand gegenüber steht. Indem ich es mir gegenüberstelle, mir seiner bewusst werde, wird es zum Ding!

Als frisch gebackener Opa hatte ich vor ein paar Tagen Gelegenheit zu erleben, wie intensiv mein kleines Enkelkind die Welt über Dinge begreift. Hauptsächlich durch das tatsächliche Greifen und Befühlen von Gegenständen tritt Nora mit der Welt in Beziehung. Da dies hauptsächlich mit dem Mund geschieht, zumindest immer dort endet, handelt es sich vermutlich um einen sehr lustvollen Prozess!

Ethnologisch gesehen (ich lese gerade „Eine kurze Geschichte der Menschheit" von Yuval Noah Harari) fängt Homo Sapiens (das sind wir!) über viele Jahrtausende hin ganz langsam an, Dinge zu erzeugen und zu benutzen. Schon bei den frühen Jäger- und Sammlerkulturen lässt sich erkennen, welche Bedeutung sie ihren Gegenständen zukommen ließen. Sehe ich mir z.B. einen indianischen Kindermokassin in meinem Buch über die Indianer Nordamerikas an erkenne ich seine liebevolle, wunderschöne Gestaltung und bin erstaunt, wie ein Gegenstand aus einem mir ganz fernen Kulturkreis, der mit uralten, fremden Symbolen bestickt wunde, auch heute eine für mich wahrnehmbare Kraft besitzt. Scheinbar gibt es einen unsichtbaren Faden, der mich mit diesen Menschen verbindet, vielleicht gibt es über Kontinente und Kulturen und Zeiten hinweg ein kollektives Ästhetisches Empfinden in unserer Spezies.

Ich glaube zu wissen, warum der Mensch seit jeher allen Dingen über ihre Funktionalität hinaus Gestaltung und Ästhetik verleiht: Um Kraft auf ihnen zu sammeln. Mache ich etwas schön, dann lade ich es mit Energie auf! Bei frühen Kulturen und Naturvölkern, wie es sie bis heute gibt, ist es völlig einleuchtend, warum es für sie wichtig ist, Dinge stark zu machen: Nur so schützt ein Gegenstand vor bösen Geistern, holt gute Kräfte zur Hilfe. Der durch Gestaltung beschworene Mokassin schützt mein Kind vor den Gefahren der Welt, der mit starken Symbolen verzierte Schild macht unverwundbar im Kampf. Alles Gestalten diente der Rückbindung in den Bereich des mythisch-göttlichen, der Einbindung ins Kosmische!

Natürlich könnte an dieser Stelle trefflich darüber diskutiert werden, inwieweit sich das heutige Designen unserer Konsumprodukte von dem oben beschriebenen Gestalten unterscheidet – oder auch Ähnlichkeiten aufweist. Mir jedenfalls scheint heute die Absicht im Vordergrund zu stehen mit dem Design Begehren zu wecken und Absatzzahlen zu erhöhen.

Ich bringe diese Überlegungen hier nicht ein, um Sie über etwas zu belehren, was Sie vielleicht schon wussten, sondern um zu sondieren, herauszufinden, auf welche Weise ich mich dem eigentlichen Thema dieser Ausstellung, dem Ding in der Kunst, nähern kann … was hat nun der Gegenstand im postmodernen Kunstwerk zu suchen?

Ich verzichte hier auf eine Darstellung der Geschichte des Stilllebens und verweise nur auf den Sachverhalt, dass dem Stillleben in seiner Blütezeit, dem Barock, eine spirituelle Funktion zugewiesen wurde: Der Symbolkanon, in den jeder der dargestellten Gegenstände eingeordnet war, sollte den Betrachter vor allem an seine Sterblichkeit erinnern und ihn zur Kontemplation anregen.

Ich möchte Ihnen jetzt mit einem Zitat von Erhart Kästner einen Gedankensprung zumuten:

»In meinem Fantasie-Kabinett: Keine Geschichten mehr. Keine. Etwas Anderes ist dringlicher geworden als alles: Das Ding, die Dinge. Und keineswegs, wie es früher war, herzerfreuend sicherer Besitz, Hausrat, Chardin. Anders. Dinge im Notstand. Dinge um Existenz ringend, zuckend, beschwörend, beschworen; auch freche Worte rufend wie die Kinder vor dem Hexenhaus, bevor sie wegrennen. Dinge, die fragen: Was bin ich? und: Bin ich? Man müßte ja taub sein, wenn man den Notschrei nicht hörte.«

Erhart Kästner, Der Aufstand der Dinge, Insel Verlag 1973, (S. 175)

In diesen Sätzen Erhart Kästners, zitiert aus dem Buch „Aufstand der Dinge“, fand ich – als ich sie vor einiger Zeit das erste Mal las – auf wunderbare Weise den Ruf des Dinges artikuliert, etwas, das mich als jungen Künstler Anfang der achtziger Jahre auf die Fährte einer gegenständlichen Kunst brachte: Unter dem Einfluss von THC luden mich die Dinge regelrecht ein, mich zu ihnen zu setzen, ihnen zu lauschen. Sie forderten Aufmerksamkeit und in der sich auflösenden Zeit erzählten sie vom Hier und Jetzt, von Fülle und Leere, vom Da sein. Ich setzte mich zu ihnen und aus dem Zuhören und Sehen wurde Malen.

In der frühen Kindheit scheinen die Dinge für uns alle etwas Wesenhaftes, Lebendiges zu haben, etwas, das zur Kommunikation anregt und unser Sein erwidert. Alles tritt wie neu, von Bedeutungszuweisungen und Festlegungen unberührt auf uns zu. Wenn wir zu Erwachsenen werden entgleitet uns diese Art der Wahrnehmung.

Werner Haftmann beschreibt im Folgenden am Beispiel Giorgio Morandis, wie die unverstellte Sichtweise, die wir wohl alle als Kinder kannten, bei Morandi zum Anlass und Gleitmittel malerischer Selbstreflexion wurde. Er beschreibt die Arbeitsweise Morandis, „… der dem sich langsam formenden Auftritt der Dinge hingegeben und äusserst gespannt zuschaute. …“ und stellt dann Morandis „…Hinhorchen auf die Mitteilung, die die Dinge selber sagen wollten …“ ins Zentrum seiner Beschreibung. Ich zitiere weiter: „… Da in dieser … meditativen Kommunikation der Abstand zwischen den Dingen und dem betrachtenden Ich sich … aufhob, war das endlich erreichte und dem Maler antwortende Gegenbild zugleich die eigene Selbstdarstellung … Morandi ging es … einzig um das schauende Eindringen in die rätselhafte Gegenwelt der Dinge, die für ihn Natur und Welt repräsentieren.“

Zitate aus Werner Haftmann über Giorgio Morandi, Ausstellungskatalog DuMont, 1990

Die hier veranschaulichte Deutung der Arbeiten Morandis als Orte der Selbst- und Weltreflexion erinnert von fern an die vorhin erwähnte spirituelle Funktion der Stillleben zur Zeit des Barock. Dinge, die in den Zusammenhang einer Komposition, einer Installation oder jedweden künstlerischen Konzepts gefügt werden tauchen in neue Zusammenhänge ein, um auf anderen Bedeutungsebenen aufzutauchen. Im Kunstwerk repräsentieren sie nicht mehr ihren ursprünglichen Nutzen, sondern werden zu Projektionsflächen, auf denen wir, wie im Traum, uns selbst begegnen.

Ich bringe hier Martin Heidegger ins Spiel, von dem auch Haftmanns Text inspiriert scheint und mache das wohlweislich nur indirekt: Dr. Ludwig Hasler schreibt zu Heideggers Text „Das Ding Dingt“:

„Genau das strengt Heidegger mit Mitteln des Denkens an: eine Unmittelbarkeit, in der die Trennung von Ich und Ding verfliesst. Im (…) Vortrag über "Das Ding" spricht er eine Stunde über nichts als einen Krug ... Befremdend - und faszinierend, wie er das banale Ding umgarnt, bis er quasi selber im Krug sitzt … bis der Krug zugleich verschwindet und zum Schauplatz einer Art Weltdrama wird. (...)“ Heidegger „entwickelt … eine Wahrnehmung, die … die Auflösung der eingespielten Ordnung betreibt. Sie destabilisiert die Dinge, dezentriert das Ich. Bis die Dinge zu handeln beginnen. Das Ding ist nicht, es dingt. Heidegger kennt die Wortgeschichten. "Ding" kommt vom althochdeutschen "thing", dem Wort für "Versammlung", "Gericht", worin die "gemeinsame Streitsache" zum Austrag kommt. Also, das Ding liegt nicht einfach da, es trägt unsere menschlichen Angelegenheiten aus…«

Zitat aus: Die Weltwoche (45/2004)

Ich finde besonders die Bedeutungserweiterung, die aus den letzten zwei Sätzen hervorgeht, sehr ergiebig für den zeitgenössischen Kunstdiskurs: Indem Heidegger der Wurzel des Wortes Ding nachgeht und damit das althochdeutsche Thing ins Spiel bringt, schafft er zwischen den erweiterten Kunstformen wie Konzept oder Performance und den traditionellen eine Verbindung: Es ist nämlich eine mit der Moderne zu Beginn des 20ten Jahrhunderts gewachsene wesentliche Idee, dass Kunst wie in einer Streitsache, wie auf einem Thing, unsere menschlichen Angelegenheiten auszutragen und Stellung zu beziehen hat. Joseph Beuys, der sich, exponiert wie kein anderer, von der Idee abgewendet hat, Kunstwerken durch ästhetische Aufladung Kraft und Wirkung zu verleihen, hat sich einer anderen, verwandten Methode ursprünglicher Kulturen zugewandt, dem Schamanismus. Mit seinen Aktionen, die wie ich finde unsinniger Weise in Museen einbalsamiert sind, wollte er jeden Menschen der Gesellschaft befähigen, am großen Thing, an dem Ort, wo die wichtigen Dinge der Gesellschaft verhandelt werden, teilzunehmen.

Nun aber, nachdem die Grenzen und Kategorien aufgelöst sind, lasst uns zurückkehren an diesen Ort um uns dem, was hier zu sehen ist zuzuwenden, um einfach nur zu schauen!

Die hier gezeigten Arbeiten sind eine subjektive Auswahl an Positionen aus meinem künstlerischen Freundeskreis und Gesichtsfeld und beschäftigen sich auf ganz unterschiedliche Weise mit dem Ding. Ich möchte hier nur ganz kurz einzelne Aspekte zu den Werken anbieten, mögliche Bedeutungen anreißen und Sie damit anregen, selbst in Austausch zu treten und Resonanzen zu entdecken!

In Laura Ribero‘s Werkreihe Elektro-Doméstica spiegelt sich die Verlorenheit der in den Dingen der Konsumwelt und ihrer Rolle gefangenen weiblichen Protagonistin.

Ran Zhang führt uns mit Arbeiten in die Welt hundertfach vergrößerter synthetischer und organischer Materialien und zeigt uns Oberflächenlandschaften von atemberaubender Ästhetik.

Reiner Schwarz konfrontiert uns in seinem auch im kleineren Format monumentalen grafischen Werk mit der morbiden Stofflichkeit der Dinglichen Welt, letztendlich mit Auflösung und Vergehen.

Die Malerei Lars Lehmanns führt mich zurück in die Zeit der Kindheit, als die Dinge aus den Schatten traten und erzählten … Auf einem Grundton leiser Melancholie findet eine immer überraschende Farbigkeit zu Tönen und Kompositionen, die berühren. Er öffnet uns verschlossen geglaubte Kammern …

Barbara Bräuer bietet uns mit der Werkreihe ihrer Gouache Stillleben die Lust an einer ungewöhnlichen, luftigen Malerei, in der die Pinselführung um die Objekte tanzt und sie in einem Spannungsverhältnis aus Ernst und Freude hält. Diesen Arbeiten sieht man an, dass sie spontan, vor Ort entstehen.

Hanna Kier gelingt es, mit ihrer Arbeit unser Verhältnis zu den gewöhnlichsten Dingen des Haushaltes zu befragen: So eklatant die bis ins kleinste Detail wiederzuerkennende Stofflichkeit ins Auge fällt, sich befühlen lässt, so befremdend stößt uns die verwandelte Materie ab. Als hätten all die uns so vertrauten Gegenstände, einst lebendig, sich im falschen Moment umgesehen und ins Gorgonenantlitz geblickt!

In seiner Arbeit Einzelstücke lenkt Reiner Will unseren Blick auf gefundenes, meist Bruchstücke von Plastikspielzeug. Sie alle stammen von der Bürgerweide, einem innerstädtischen Platz in Bremen. Es sind durch Zerstörung, Erosion und Abnutzung zu einzigartig reizvollen Torsi geformte Erinnerungsstücke an die Kindheit, an Vergangenes und Verlorenes.

Leonard Lilienfein experimentiert mit Programmierung: Es geht ihm darum, einen möglichst großen Teil des Entstehungsprozesses seiner Grafiken dem von Algorithmen gesteuerten Zufall zu überlassen. Er automatisiert den Gestaltungsprozess und minimiert dabei den Einfluss eigener  Empfindungen um einen unbekannten Raum zu öffnen und zu sehen, ob und wie weit sich trotz dieser Entleerung an Gestaltungswillen subjektive Bedeutung und Ästhetik einzustellen vermag.

Thomas Hannappels Fotografien gehen stets temporäre Installationen voraus. Inszenierte Ausschnitte von Wirklichkeit finden in kollageartigen Kompositionen zu einem neuen Ausdruck. Er spielt mit unserem Befremden und hält seine Arbeiten in einem zwischen kühler Ästhetik und spielerischem Ornament changierenden Zustand. 

Bei Thorsten Hallscheidt schließt sich der Kreis: Von seiner Arbeit, die ich am Eingang der Rede als Auslöser für diese Ausstellung beschrieben habe, und die ich hier gerne noch einmal präsentiert hätte, sind die minutiös gezeichneten Naturbeobachtungen geblieben, das entspricht dem, was für ihn heute passt und stimmig ist. Wenn ich vor ihnen stehe verstummt jede Frage nach Themenbezug und Theorie und ich werde zum Teilhaber seiner Kontemplation.

Sebastian Walter-Lilienfein

 

Sebastian Walter-Lilienfein
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