Einführungstext Katalog '11 von Susanne Lilienfein

 

Ich nehme die Gelegenheit wahr, einige meiner Gedanken wiederzugeben, die um die Bilder kreisen, die mich täglich umgeben und deren Entstehung ich nah miterlebt habe.

»Das Mysterium scheint auf im Wahrnehmen des Seins der Dinge - ich suche Ruhe und Erkenntnis in diesem Wahrnehmen, vielleicht, dass sich mein Sein im Sein der Dinge spiegelt und ich über diesen Umweg zu Erkenntnis gelange.«
(S.Walter-Lilienfein,  2002)

Mit diesem Zitat endet der Textteil „Aus den Kalendernotizen 1998 bis 2002“ des letzten Kataloges. Ich beginne mit ihm, da der Aspekt des Spiegelns mir – nun auch im konkreten Sinne – im Zusammenhang mit dem des Erkenntnisgewinns, in der Malerei der Folgejahre, als zentral erscheint.
Assoziativ ausgewählte literatur- und kunsthistorische Beispiele ziehe ich heran, um das Werk in Zusammenhängen unterschiedlicher Richtungen aufscheinen zu lassen, und damit im günstigen Fall die Möglichkeit der Weitung, der Einbindung und der Abgrenzung zu bieten.

»Unser Bewußtsein als das brechende Prisma,
das unser Leben in ein Nacheinander zerlegt,
und der Traum als die andere Linse,
die es wieder in sein Urganzes sammelt;
der Traum und die Dichtung,
die ihm in diesem Sinne nachzukommen sucht – «

(Max Frisch, Tagebuch 1)

Frisch fasst als Schriftsteller über Dichtung in Worte, was die vorliegende Malerei ins Bild setzt. Sie bricht das Bemühen unseres Bewusstseins, dargestelltes „stilles“ Leben prismen-artig zu ordnen und in ein Nacheinander zu zerlegen, auf.
Die Bilder verdichten linsen-artig Eindrücke, Erfahrungen in einem traumartigen Geschehen.
Auf den Bildern erscheinen Gegenstände, Szenerien, Menschen auf verwirrende, rätselhafte Weise: Ein Eindruck, der durch den Einsatz von Glas, das Spiel von Licht und Schatten, durch perspektivische Verzerrung und Komposition entsteht.
Ab etwa 2003 tauchen auf den Bildern immer häufiger Glasscherben auf. Es entwickelt sich auf ihnen die Reflexion in Form von Spiegelungen, zunächst auf deutlich erkennbaren Scherben. Scharfkantig schneiden sie in die Komposition, spiegeln oft überhell Himmel auf dunklem Grund einer dargestellten Innenszenerie.

Später, ab 2008, spiegeln sich Szenen auf Glas Format füllend.
Wirkliches hinter Glas und Widerschein von Wirklichem auf Glas sind ineinander verflochten, schaffen eine erweiterte Perspektive, verrätseln und enträtseln zugleich. Sein und Sein im Widerschein stiften Verwirrung und decken dennoch auf.
Es entsteht ein neues Ganzes. Das komplexe Miteinander aus Dingen, Räumen und Gestalten lässt in der Komposition das Beziehungsgeflecht ornamental aufscheinen:

Es gleicht dem Blick in ein Kaleidoskop:
Immer neu setzen sich die Scherben zusammen, auf denen Nahes und Fernes, Dunkles und Helles aus dem Traumdickicht deiner Existenz reflektiert wird.
(S.Walter-Lilienfein, 2008)

Der Blick der Betrachtenden gerät zunehmend in Sackgassen, bei dem Versuch die Dinge zu ordnen, Perspektiven zu enträtseln, zu durchschauen wie etwas in Raum oder Spiegel und Glas dem Künstler beim Malen real entgegen getreten sein mag.
Der verlockende Ansatz, gerade in den neueren Werken einen logischen Zusammenhang herzustellen, lässt zwar genau hinschauen, sollte aber nicht der einzige bleiben.
Denn das Kunstwerk löst sich von Entstehungsumständen und Künstler, wird in Unabhängigkeit und Eigenständigkeit entlassen. Als solches fordert es die Betrachtenden zum ganz eigenen Dialog heraus. Sie sind aufgefordert einfach zu betrachten, Ungeklärtes hinzunehmen, sich zu öffnen, auf sich wirken zu lassen.
Ich halte es für wichtig der eigenen Resonanz zu trauen, über das logische Verstehen hinaus eine eigene Beziehung aufzubauen.
Wie von selbst lassen sich dann kompositorische Ordnungen entdecken, reale und irreale Elemente fügen sich zu abstrakten Gebilden, kleine Ausschnitte erzählen eigene runde Geschichten und gehören doch zum großen Ganzen.
Genau das ist es, was das Kunstwerk zum Schwingen und zum Klingen bringt:
Als Subjekt finden sich die Betrachtenden in ihrem Denken und Fühlen gespiegelt – sie gelangen im positiven Fall zu einem Erkennen, das sie durch das Kunstwerk und über das Kunstwerk hinaus zu eigener Wahrheit gelangen lässt.

Der Spiegel als Motiv ist im Laufe der Geschichte immer wieder eng verbunden mit Erkenntnisprozessen. Das Ich, die Welt wird ausschnitthaft „reflektiert“, erscheint im neuen Licht.
So verfällt z.B. Narkissos dem Mythos nach beim Erblicken seines Spiegelbildes in eine unfruchtbare Liebe zu sich selbst, die Stiefmutter Schneewittchens befragt ihren Spiegel in narzisstischem Bestreben, die Schönste zu sein und zu bleiben. In beiden Figuren  wird der destruktive Aspekt, die Verirrung, durch die Spiegelschau verkörpert.
Irritationen durch den Blick in Spiegel finden einen Höhepunkt in Spiegelkabinetten auf Jahrmärkten, die den eigenen Körper optisch verzerrt reflektieren. Wie in Labyrinthen mit Irrgängen ist es für den Besucher eine Herausforderung sich zurechtzufinden.
In der Literatur treten Spiegel häufig in Verbindung mit Labyrinthen auf. Labyrinthe, welcher Art auch immer, sind durch ihre Jahrtausende alte Geschichte stark mit Initiation, mit Erkenntnis und Selbsterkenntnis verbunden.
So sieht sich zum Beispiel auch Dürrenmatts Minotauros in seiner gleichnamigen Erzählung getäuscht durch die eigenen Spiegelbilder im Labyrinth, welche ihm vorgaukeln, lebende Gegenüber zu haben, die genau seine Bewegungen nachahmen. Auf Grund seiner begrenzten Erkenntnisfähigkeit als halb tierisches Wesen kommt er sich zwischen ihnen »wie ein Anführer, ... wie ein Gott« vor (Friedrich Dürrenmatt, Minotauros Eine Ballade, Zürich 1985, S.12). In der Folge beginnt er nach und nach zu erkennen, dass er »der Vereinzelte war, der zugleich Aus- und Eingeschlossene ...« (ebd., S.50). Es ist ein Prozess der Ent-Täuschung, der von Wut und Hass gegen andere und sich selbst begleitet wird. Kurz vor seinem Tod erkennt er in seinem
Spiegelbild schließlich sich selbst, kann im Bewusstsein seiner selbst Theseus offen und vertrauensvoll als Gegenüber begegnen…
Friedrich Dürrenmatt beleuchtet in seiner Erzählung Gefahren und Möglichkeiten der Selbstreflexion, den langen, über Umwege führenden Weg zur Selbsterkenntnis.
In den Bildern Walter-Lilienfeins tauchen Selbstporträts nur vereinzelt als Teil eines größeren Ganzen auf. Durch den Einsatz von Spiegelungen entsteht eine doppelte und bewusst eingesetzte Reflexion. Sie  bewirkt eine optische Vielschichtigkeit und damit mehr Differenzierung. Gleichzeitig verwirrt sie. Die Dechiffrierung wird erschwert und  damit ist der Weg zur Erkenntnis – wie im Labyrinth – einer der Umwege, kein geradliniger.

Im Zusammenhang mit Spiegelungen und deren Bedeutung stehen auch die bewusst eingesetzten Lichtquellen und die durch sie entstehenden Schatten. Es wird mit der Wirkung des Einsatzes von Tages- und Kunstlicht gespielt, Schatten werden erzeugt; sie verdunkeln, verdoppeln, verzerren.

»Im Gefolge des Platonismus wird sich das Kunstwerk den Zwängen des Spiegelparadigmas fügen und die Schattenprojektion nur eine untergeordnete Rolle spielen. Das heißt jedoch nicht, dass der Schatten aus dem Arsenal der Repräsentation ganz verschwände: Er wird immer der arme Verwandte des Spiegelbilds bleiben, der dunkle Ursprung aller Repräsentation.«
(30 V.I. Stoichita, Eine kurze Geschichte des Schattens, S.26)

Der Schatten stellt das Objekt, auf das Licht fällt, in Bezug zum Raum, in dem es sich befindet und ist Beweis für die Existenz des Objektes im Sinne von Platons Höhlengleichnis. Im Gleichnis ist es der Schatten selbst, der für die Menschen innerhalb der Höhle Wahrheit darstellt. Er steht damit am Beginn menschlicher Erkenntnis.
Gleichzeitig ist der Schatten bei Platon ein Bild für Täuschung, der die Menschen ausgesetzt sind. Erst außerhalb der Höhle zeigt das Sonnenlicht ihnen die wahre Beschaffenheit der Dinge.

Die Vergänglichkeitsmotive, ohne die die Bilder nicht zu denken sind, erscheinen mit dem Einsatz der reflektierenden Scheiben und Schattenbildungen verstärkt in unwirklichen Zusammenhängen, tauchen auf oder verschwinden.
Alte Schwarz-Weißfotos in teilweise verwitterten Rahmen, verwelkte Blätter, Holz, abgenutztes Kinderspielzeug, Musikinstrumente, altertümliche, teils beschädigte Gefäße wie Dosen, Krüge, Flaschen, alte Wannen, außerdem Figuren, ausgestopfte Tiere, aber auch heute ganz unübliche Kleider, Mäntel und Stoffe gehören zu den häufig vorkommenden Gegenständen. Sie wecken Assoziationen an die in Vanitasdarstellungen verwendeten Motive. Ihr festgelegter kanonischer Symbolgehalt ist allerdings auf die hier eingesetzten nicht anwendbar.  Die Bedeutungen der einzelnen Motive bei Walter-Lilienfein erschließen sich intuitiv in ihrem Zusammenspiel, bedürfen keiner kanonisierten Festlegung. Ein Blick auf den ursprünglichen Bedeutungsgehalt der Gegenstände in der Malerei des Barock zeigt jedoch eine Verwandtschaft hinsichtlich eines Grundtenors der Melancholie.
Auch der christlich-religiöse Aspekt der Vanitas als tröstendes und versöhnendes Element taucht hier nicht auf.
Das Tröstliche und nach vorn Gewandte liegt vielmehr in der Wiederbelebung von scheinbar Vergessenem und in der Art seiner Darstellung.

Wenn ich male
wickle ich meine
traurigsten Gedanken
in mein schönstes Tuch.

Um nichts zu verbergen
will ich die Trauer
mit Freude verschleiern -
so ist eines im anderen geborgen.
(S. Walter-Lilienfein, 2006)

Die dem Vergessen anheim gegebenen Dinge erwachen durch die Komposition und gesteigerte Farbgebung in einem anderen, neuen Kontext. Erinnerungen werden beim Anschauen geweckt, traumhaft und melancholisch scheinen die Bilder den Betrachtenden Geschichten zu erzählen.
Weitere oft verwendete Motive sind die der Reise: Globen, Atlanten, Modellschiffe, Sand, blau schimmernde Böden, auf die hin und wieder spotartig warmgoldenes Licht fällt. Auch ausgestopfte Vögel erinnern an Aufbruch und Reise. Allein durch die Tatsache, dass sie nicht fliegen können, wecken sie Sehnsucht, ohne sie zu erfüllen.

Und ich arbeite weiter an immer dem gleichen Bild... Wie ein endloser traumartiger Reigen, so umkreist in langen, enger werdenden Ringen mein Denken den Ort, der eine Wunde ist.
Denken meint hier aber nichts anderes als Träumen und Gestalten in einen Fluss zu bringen.
(S. Walter-Lilienfein, 2009)

Auffällig, und dazu möchte ich nun am Ende noch einige Gedanken anschließen, ist hier auch die Nähe zum Surrealen.
Wenn es im Surrealismus darum ging, Unwirkliches und Traumhaftes, das Unbewusste auszuloten, den durch die menschliche Logik begrenzten Erfahrungsbereich durch Fantastisches und Absurdes zu erweitern, so gibt es zumindest Anknüpfungspunkte in der Malerei Walter-Lilienfeins.

Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität.
(André Breton)

Im Sinne Bretons kann auch diese Malerei bei aller Genauigkeit, mit der Menschen, Gegenstände und Räume auf den Bildern erfasst sind, als surreal verstanden werden:

Die Fraglichkeit des Realen korrespondiert mit der Tatsächlichkeit von etwas Irrealem.
An dieser Stelle bekommt der Naturalismus, das manische auf ein Gegenüber schauen seine eigentliche Bedeutung:
Es dokumentiert das Irreale als realen Bestandteil des mit der Welt Versponnenseins.

(S. Walter-Lilienfein, 2003)

Entgegen der Methode der Surrealisten der ersten Generation, schnell zu zeichnen, um Unbewusstes aufzuspüren, dem sogenannten automatischen Zeichnen, entstehen die Bilder hier als Ergebnis eines Kompositions- und Sehprozesses, der Zeit in Anspruch nimmt. Szenerien entstehen als Installationen im Atelier, bis sie für den Künstler Stimmigkeit erreicht haben: Das intuitive Abgleichen zwischen innerem Erleben mit dem Außen spielt dabei eine wesentliche Rolle, verlangt Inspiration und Konzentration.

Das Stillleben ist ein Ort des Schweigens und nach innen Hörens, nicht des Erzählens.
Weniger spricht es über innere Vorgänge, als dass es über sie nachdenkt.
Es ist Kreisen um den Ort, den Zustand "Ich", ist Zeuge der schmerzvollen und schönen Kernverschmelzung von Individuum und Welt.
(S. Walter-Lilienfein, 2007)

Das Fantastische und Absurde, das bei den Surrealisten den Erfahrungsbereich der menschlichen Logik erweitern soll, existiert in den vorgestellten Werken  als Folge konkret aufgebauter, demnach real wahrgenommener Installationen. Die Betrachtenden wären also theoretisch im Stande, Schein und Widerschein zu trennen, die ursprüngliche Komposition im Raum nachzuvollziehen, sofern sie daran interessiert sind. So verbleiben die den Surrealismus kennzeichnenden Elemente bei Walter-Lilienfein im Bereich des Konkreten, entfalten aber dennoch ihre surreale Wirkung.

Bei allen Überlegungen und Versuchen die Bilder einzuordnen, Kennzeichnendes, Gemeinsames, aber auch unterschiedliche Anklänge und Assoziationen herauszuarbeiten, zu „begreifen“, bleibt – und das ist ein Glück und ist wesentliches Merkmal von Kunst – ein Rest. Ein unerklärbarer, rätselhafter, geheimnisvoller Rest, der den Betrachtenden Raum lässt ...
Und so möchte ich zum Schluss in diesem Sinne den Künstler selbst zu Wort kommen lassen:

Erkenntnis ist nichts als die Offenbarung des Rätsels; enthülle mir die Welt als Geheimnis!
Nur das Geheime beheimatet die Seele im Leben.

(S.Walter-Lilienfein,  2010)


© Copyright Text: Susanne Lilienfein